Die Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises 2010

Aus den Vorjahreserscheinungen, ca. 560 Büchern, hat eine berufene Kritikerjury in den Sparten Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch ( nominiert waren jeweils sechs Bücher aus der riesigen Auswahl und wurden auf der Leipziger Buchmesse 2010 bekanntgegeben ) auf der Frankfurter Buchmesse am 8. Oktober 2010 jeweils einen Preisträger gekürt. Eine Jugendjury wählte das beste Jugendbuch und es wird ein Sonderpreis für das Gesamtwerk eines Autors, Illustrators oder Übersetzers vergeben. Der Deutsche Jugendliteraturpreis wird seit dem Jahr 1956 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend verliehen und ist der einzige Staatspreis. Ausgezeichnet wird, und das ist der Anspruch, das besondere Buch, das aus dem Gros der Neuerscheinungen herausfällt, nicht unbedingt Bestseller verdächtig ist, keine Klischees oder Trends bedient oder Nettigkeiten verbreitet. Eine neue Stimme soll zu hören sein, das besondere Buch wird gesucht.

Auffällig bei der Auswahl der Jury in diesem Jahr ist die Dominanz des Bildes, denn in den Kategorien Kinderbuch und Jugendbuch sind die Gewinner jeweils Graphic Novel.

Bilderbuch – Stian Hole: Garmans Sommer, Carl Hanser Verlag

Der norwegischer Autor und Illustrator Stian Hole fängt mit seiner Geschichte sensibel die Gefühle des sechsjährigen Garman ein, ängstliche Empfindungen, die allen Menschen vertraut sind. Der Sommer geht dem Ende entgegen und der Junge, weiß, dass sein erster Schultag naht. Wie immer sind seine drei sehr alten Tanten zu Besuch und wie jedes Jahr haben sie ihm selbstgestrickte Pudelmützen geschenkt und nicht die heiß ersehnte Batman-Mütze. Garman beobachtet seine gebeugt laufenden Tanten mit ihren runzligen Gesichtern. Um mit seinen Ängsten klar zu kommen, fragt er sie über ihre Gefühle aus, die so ganz anders sind als die seinen. Die Tanten haben Angst vor dem Winter, vor der Kälte, den glatten Wegen. Garman kann das gar nicht verstehen, denn für ihn heißt Winter ein Iglu bauen, rodeln und heißen Kakao mit Sahne trinken. Nichts bleibt so, wie es ist, das versteht Garman so nach und nach. Er schaut das Gebiss einer Tante an und kann gar nicht begreifen, dass ihm noch kein Zahn ausgefallen ist, obwohl er doch nun in die Schule kommt. Es hilft, wenn man über seine Ängste und alles Vergängliche reden kann. Trotz allem – das mulmige Gefühl vor dem ersten Schultag bleibt.

Stian Holes Illustrationen wirken durch die digitale Bearbeitung, es sind Montagen aus Fotos, Zeichnungen etwas künstlich, auch kühl. Und doch faszinieren die genauen, auch symbolischen Bildkompositionen, denn sie zeigen, was Garman innerlich beschäftigt und bewegt. So sieht der Betrachter wie Tante Ruth, die Angst vor einer Gehhilfe hat, die sie bald benötigt, auf Garmans angebotenem Skatebord mit ihrem altmodischen Handtäschchen dahinschwebt. Eine andere Tante, die glaubt, dass sie bald sterben wird, fliegt in den Himmel und ihr folgen Libellen, ein Engel, ein Lippenstift und Vögel. Sie hat sich schön gemacht für diesen letzten Weg.

„Garmans Sommer“, weitere Garman Geschichten sind bereits in Norwegen erschienen, ist ein nachdenklich stimmendes, auch melancholisches, aber sehr ehrliches Buch, in dem sich Text und Bild genial ergänzen.

Kinderbuch – Jean Regnaud, Émile Bravo( Ill.): Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen, Carlsen Verlag

Jean Regnaud erinnert sich in dieser Geschichte an seine eigene Kindheit. Sein Held, der kleine Jean, erzählt von seinem Alltag im Jahr 1970, irgendwo in Frankreich.

Es beginnt mit der Einschulung. Die Frage der Lehrerin, welchen Beruf seine Mutter ausübt, bringt Jean ins Schwitzen, denn er weiß es nicht. Seine Mutter ist nicht mehr da. Den sehr strengen, oft gleichgültig wirkenden Vater traut er sich nicht zu fragen. Und so konstruiert sich der Junge eine eigene Version. Jean hofft, seine Mutter ist auf Weltreise. Als er das dem älteren Nachbarsmädchen Michèle erzählt, schaut sie ihn nur traurig an. Tage später zeigt sie ihm, das muss allerdings ein Geheimnis bleiben, Postkarten von seiner Mutter. Sie schreibt an Jean aus Spanien, aus der Schweiz und natürlich hat sie einen Indianer getroffen. Der Leser ahnt schnell, irgendetwas stimmt mit dies en Postkarten nicht. Zum einen strotzen die Texte nur so vor Rechtschreibfehlern und zum anderen treffen Jean und sein kleiner Bruder immer wieder Verwandte und Bekannte, die sie so mitleidig bedauern. Hinter der schweigenden Fassade der Erwachsenen lauert das Geheimnis. Doch warum öffnet sich niemand und warum sehen weder Yvette, noch die Großeltern was Jean grämt. Am Ende wird der Junge ziemlich rüde die Wahrheit über seine Mutter erfahren und das wird ihm sehr weh tun.

Tieftraurig ist die Erzählung über Jeans Kindheit allerdings nicht und das liegt an den lebendigen Figuren, Alltagssituationen und der leichten Erzählweise von Jean Regnaud und, keine Frage, den farbig stimmigen, sehr präzisen Zeichnungen von Émile Bravo. Der Leser nimmt auch durch die Wahl der Farben wahr, was Jean denkt und wie er sich fühlt, was er sich erhofft, was er total falsch versteht. Der Kontrast zwischen dem, was wirklich geschieht und Jean glaubt passiert, ist dann meistens sehr komisch. Erzählt wird eine Alltagsgeschichte, in der sich die Brüder kloppen, Jean seinen Freund Alain trifft, sie ihr Kindermädchen Yvette anhimmeln und zu Erkenntnissen gelangen, die ihnen nicht erspart bleiben, u.a. dass es gar keinen Weihnachtsmann gibt. Jeans Hoffnungen werden entzaubert, aber damit wird er fertig werden.

Jugendbuch – Nadia Budde: Such dir was aus, aber beeil dich! Kindsein in zehn Kapiteln, Fischer Verlag

Die Berliner Buchkünstlerin Nadia Budde, Jahrgang 1967, erinnert sich in ihrem Comicroman an persönliche Episoden aus ihrer Kindheit in der DDR. Sie erzählt nicht chronologisch, sondern umkreist in Wort und Bild erinnerte Alltagsszenen, z.B. wie war es bei Oma und Opa auf dem Land. Welche Gerüche haben sich für immer ins Gedächtnis eingeprägt, die mit dem Aufenthalt verbunden waren? Wie lebten die Leute, die Nachbarn, wie haben sie gefeiert, gearbeitet, sich politisch passiv oder aktiv verhalten? Welche Filmhelden aus den westlichen Fernsehprogrammen spielten in der Kindheit eine wichtige Rolle? Winzige Alltagsdinge, auch langweiliges, rücken in den Mittelpunkt und sagen doch viel mehr über das Leben in der DDR aus als die allgemein zugänglichen Informationen.

Ironisch, komisch und auch sarkastisch reflektiert Nadia Budde das Leben in der Stadt, in der Plattensiedlung mit den unaussprechlichen Straßennamen. Wieder schnappen Kinder Dinge auf, die sie nicht verstehen, leben nach ihren eigenen Regeln. Auf einer Doppelseite sammelt Nadia Budde, alles was für sie zum Kindsein (....Zahn abschlagen, zu spät nach Hause kommen, Konsummarken einkleben,Altpapier sammeln, in Seife beißen, Güterwaggons zählen.....) dazugehört, was jeder Leser mit seinen Erfahrungen ergänzen könnte.

Sachbuch - Christian Nürnberger: Mutige Menschen – Widerstand im Dritten Reich, Gabriel Verlag

In Christian Nürnbergers Sachbuch werden zwölf Menschen porträtiert, die sich in der Zeit des Hitlerfaschismus nicht angepasst haben, keine Mitläufer waren. Sie haben sich mutig anders verhalten und indem sie sich eindeutig gegen Hitler und die Judenverfolgung gestellt haben. Sie wollten etwas verändern. Die meisten mussten für ihre aufrechten Taten mit dem Tod bezahlen. Christian Nürnberger hofft durch die Erinnerung an diese Menschen und ihre Lebensgeschichten, den Lesern zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, die geschaffene Demokratie zu verstehen und zu verteidigen. Vorgestellt werden: Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller, Sophie Scholl, Janusz Korczak, Helmuth James von Moltke, Georg Elser, Willy Brandt oder Robert Havemann, Mildred Harnack, Irena Sendler, Fritz Kolbe und Claus Schenk Graf von Stauffenberg.

Sonderpreis für das Gesamtwerk geht an Mirjam Pressler

Mirjam Pressler feierte vor Kurzem ihren 70. Geburtstag. Bereits im Jahr 1994 erhielt die bekannte Autorin den Sonderpreis für ihre Übersetzungen von Kinder- und Jugendbüchern aus dem Niederländischen, Hebräischen und Englischen. Der Sonderpreis für das Gesamtwerk jedoch, so Mirjam Pressler, hat für sie doch eine größere Bedeutung. Mehr als 50 Bücher für Kinder und Jugendliche hat die in Darmstadt geborene Autorin verfasst.

Ihr erstes Buch „Bitterschokolade“ erschien vor gut 30 Jahren und ist heute ein Klassiker. In ihrem Kinderbuch „Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen“ erzählt sie autobiographisch eingefärbt von ihrer Zeit im Kinderheim. Sie ist die Halinka in der Geschichte, für die Bücher so wie es bei Mirjam Pressler einst war, wichtige Zufluchtsorte darstellten.

Längere Zeit lebte die Autorin in Israel in einem Kibbuz, kehrte nach Deutschland zurück, heiratete und bekam drei Töchter. Die wirklichkeitsnahe Lektüre ihrer Mädchen regte Mirjam Pressler an, den Versuch zu unternehmen selbst Geschichten für Kinder und Jugendliche zu verfassen, mit Erfolg. Aus ihren Erfahrungen heraus schreibt die Autorin über Kinder, deren Weg nicht so eben ist. Aber sie wählt auch gern historische Themen für Jugendbücher aus, so auch für „Nathan und seine Kinder“ , ebenfalls in diesem Jahr auf der Nominierungsliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis zu finden.

Preis der Jugendjury

Suzanne Collins: Die Tribute von Panem, Oetinger Verlag

In diesem Roman entwirft die amerikanische Autorin ein grausames Bild von der Zukunft, in der skrupellos, unmoralisch und grausam gehandelt wird. Einem Gladiatorenkampf gleich müssen in Panem, der luxuriösen Hauptstadt, zur Belustigung der Fernsehzuschauer sich Jugendliche in einer riesigen Arena voller Fallen, Waffen, gefährlichen Tieren zu Tode hetzen. Die sechzehnjährige Katniss steht ihrem besten Freund Gale gegenüber und Peeta, dem Sohn des Bäckers. Nur wer stärker ist überlebt. Katniss bündelt alle ihre Kräfte, überzeugt durch Schnelligkeit und Stärke. Und sie verliebt sich.

Dieses Buch hat die Jugendjury gefesselt und überzeugt. Viele Fragen werden in diesem Endzeitroman aufgeworfen, die auch heute aktuell sind und in der Jurybegründung so formuliert werden: „Wie abhängig bin ich in der Mediengesellschaft von meinem Bild in der Öffentlichkeit? Wie kann ich ich selbst bleiben ohne mich im Surrealen zu verlieren? Wie erschreckend ähnlich ist die fiktive Gesellschaft Panems schon der unseren?“