Das Buch der Tagebücher, Ausgewählt von Rainer Wieland

Piper Verlag, München 2010, 704 Seiten, �39,95

23. Dezember 1946 / Evelyn Waugh, Piers Court �Ich denke mit Grauen an Weihnachten und freue mich schon auf den Operationstermin, es wird eine Befreiung sein.�

Was interessiert Leser an Tagebuchaufzeichnungen anderer Menschen? Wann reichen private Aufzeichnungen überhaupt über das Tagesaktuelle hinaus? Schreiben Leute Tagebücher wirklich nur für sich oder eher in der Hoffnung, dass sie die Zeit überdauern und Allgemeingültigkeit gewinnen könnten? Rainer Wieland versammelt in seinem Backstein dicken, au�ergewöhnlich sorgfältig gestalteten Buch die intimen, sehr persönlichen Empfindungen, Beobachtungen und über den Alltag hinausgehenden Aufzeichnungen von 180 Autoren aus über 500 Jahren. Komponisten, Schriftsteller, Maler, Schauspieler, Entdecker, Wissenschaftler, Politiker, aber auch legendäre Tagebuchschreiber wie Thomas Mann, Samuel Pepys,Victor Klemperer, Peter Rühmkorf und Anne Frank finden sich alle in dieser originären Sammlung wieder. Alle Aufzeichnungen ordnet der Herausgeber weder thematisch noch chronologisch. Er zieht die Form des klassischen Tagebuchs als Diarium vor und so findet der Leser an 365 Tagen die unterschiedlichsten Eintragungen, z.B. am 28. Juli schreibt Wilhelm Waiblinger 1824, dies sei sein glücklichster Tag im Leben, 1938 hat Sigmund Freud an diesem Tag seinem Tagebuch anvertraut, dass er sein Testament unterschrieben habe und einen Hauskauf abgeschlossen. William S. Burroughs reflektiert in seinem Todesjahr 1997 an diesem Tag über Schmerzen, die Untersterblichkeit und seine Katzen. Stammt die erste Eintragung der Sammlung zeitlich gesehen aus dem Jahr 1492, so ist die jüngste Aufzeichnung aus dem Jahre 2007. Sie dokumentiert zugleich auch die Veränderung in der Tagebuchtradition. Zum einen wurde sie im Computer verfasst und zum anderen gleich im Weblog veröffentlicht. Hier schlie�t niemand mehr sein Tagebuch mit kleinem Schloss ab, benutzt eine Geheimschrift aus Angst vor neugierigen Lesern oder versteckt es an den unmöglichsten Stellen. Für jedermann sichtbar hat hier der persönliche Eintrag plötzlich ein breites Publikum, dem unmittelbare Eindrücke frisch mitgeteilt werden.