Liebste Tess

Rosamund Lupton

Aus dem Englischen von Barbara Christ, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2010, 383 Seiten, �19,95

� Andere Leute segeln vielleicht durch das Leben wie über ein blaues Meer und werden nur ab und zu von einer Böe erfasst, doch für mich war das Leben immer ein Berg � steilwandig und gefährlich.�

Beatrice schreibt einen Brief an ihre jüngere Schwester Tess. Sie stellt sich vor, dass sie alles, was geschehen ist, dem verständnisvollen Mr Wright vom Criminal Prosecution Service in London erzählt. Als die Karrierefrau, Mitte 20, aus New York nach England zurückkehrt, ist ihre Schwester Tess, eine Kunststudentin, als vermisst gemeldet worden. Doch Tess wurde ermordet, davon ist Beatrice, Bee genannt, überzeugt. Die Polizei fand die Leiche der jungen Frau in einem Toilettenhäuschen am Rand eines Parks. Alle Indizien weisen auf Selbstmord hin. Beatrice, die sich ihrer lebensfrohen Schwester immer nah gefühlt hat und in engem telefonischen und E-Mail Kontakt stand, beginnt nun auf eigene Faust zu ermitteln. Nach und nach findet Bee heraus, dass die hochschwangere Tess einen Jungen geboren hatte, der bei der Geburt an Nierenversagen gestorben ist. Nur in dieser Zeit hatte Bee nicht auf Tess' Telefonate geantwortet. In diesem kurzen Zeitfenster im Januar jedoch ereigneten sich die Geschehnisse, denen Bee nun nachgeht. Hatte Tess nach der Geburt eine so starke Depression, dass sie sterben wollte? Das Messer am Tatort ist jedoch so teuer, Tess hätte es sich gar nicht leisten können. Was ist mit dem Kindesvater? Tess hatte sich einer Behandlung unterzogen, denn ihr achtjähriger Bruder Leo ist an Mukoviszidose verstorben. Nun sollte dem Baby mit einer kurativen Therapie geholfen werden. Wer war der behandelnde Arzt? Warum kontaktierte dieser aufdringliche Student Simon Tess? Bee nervt die polizeilichen Ermittlungsbehörden mit ihren Verdächtigungen und Erkenntnissen. Sie kann einen der Polizisten auf ihre Seite ziehen, was ihr letztendlich das Leben retten wird, denn sie ist auf der richtigen Spur.

Durch die Briefform redet Bee ihre Schwester Tess immer wieder an, erinnert sich an vergangene gemeinsame Erlebnisse und gibt Originaldialoge von Telefonaten wieder. Tess war die leichtlebige, humorvolle und liebenswürdige Schwester, Bee eher die leicht verkniffene, snobistische und karriere- wie sicherheitsorientierte Person.

Durch die Ermittlungen verändert sich Bee und versucht nicht nur in der ärmlichen Wohnung der Schwester, die sich nicht mal einen Wasserkocher und Toaster leisten konnte, zu wohnen, sie betrachtet auch die Menschen in ihrer Umgebung anders. Sie nimmt Tess' Job im Café an und wagt sich fernab der ausgetretenen Pfade in unsicheres Terrain. Sie verliert ihren Verlobten Todd und sie findet eine neue Beziehung zu ihrer Mutter, die anfänglich durch den Schmerz an den geglückten Selbsttötungsversuch der Tochter festhält.

Rosamund Lupton erzählt in ihrem Debütroman einfühlsam und sprachlich überzeugend von einer Schwesternbeziehung, die auf Vertrauen und Ehrlichkeit beruht. Durch den frühen Tod des Bruders und die Abwesenheit des Vaters entstand diese enge Bindung, die auch über eine gro�e Entfernung hinweg nicht auseinanderbrechen konnte. Bee berichtet in diesem Brief nicht nur von dieser Nähe, sondern auch von ihrer eigenen Entwicklung und das ist der Kern des Roman, die sukzessive Veränderung eines Menschen, der durch einen schweren Verlust alles in Frage stellt und zu sich selbst findet.