Kürzere Tage

Anna Katharina Hahn

Suhrkamp, TB, Berlin 2010, 223 Seiten, �8,90

�Leonie lacht und zieht den Tweedmantel enger um sich. 'Und du? Bist du auch Professorin?' Judith schüttelt den Kopf. Sie hat darauf gewartet, dass der geschminkte Karrieremund diese Frage stellt. Du bist nichts, Hausfrau und Mutter.�

Wie soll man heute leben? Eine Frage, die sich die Protagonisten in vielen Gegenwartsromanen in der Lebensphase zwischen 30 und 40 stellen. Doch nie wurde sie mit soviel Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe thematisiert wie in Anna Katharina Hahns überzeugendem Debütroman. Keine Frage, die fein beobachtete, teils ironisch eingefärbte Schilderung des bürgerlichen Milieus in einer Stra�e in Stuttgart hat es in sich. Judith, die eigentlich Jutta hei�t und eindeutig mit ihrem Ich die allergrö�ten Probleme austrägt, spinnt sich so nach und nach in ihren Lebenslügen ein. Halt für ihre beiden Kleinkinder gibt ihr die Waldorfpädagogik, in der sie sich wohltuend �dem Richtigen� hingeben kann. Judith selbst ist aus einer schwierigen Liebesbeziehung in die Arme von Klaus, der nun Professor für Maschinenbau ist, geflohen. Sie lässt ihr Kunststudium, das sie in eine Krise und Verunsicherung getrieben hatte, hinter sich und übersteht den Tag mit dem Beruhigungsmittel Tavor und der heimlichen Zigarettensucht. Nach au�en hin scheint alles in Ordnung. Der Jahreszeitentisch wird aufgebaut, der Industriezucker bleibt dem Haushalt fern, man hält sich an die anthroposophischen Verhaltensregeln fern der schrecklichen Medienwelt und ist vordergründig mit sich zufrieden. Leonie, ebenfalls eine Mittdrei�igerin, und Gegenspielerin von Judith, plagen ganz andere Probleme. Sie ist die Karrierefrau und verheiratete Mutter, die wei�, dass ihre beiden kleinen Mädchen in vielem zu kurz kommen. Simon, ihre Mann, ist ebenfalls ein gesellschaftlicher und beruflicher Aufsteiger, der zeigen muss, was er hat. Fassade scheint in diesen Familien alles zu sein. Nicht die Suche nach dem individuellen und familiären Glück bestimmt das Leben, sondern die fehlerfreie Au�endarstellung. Plötzlich steht mit dem Muttersein, ob bei Leonie oder Judith auch die Existenz auf dem Prüfstand. Ist die eine zerrissen zwischen Beruf und Kinderbetreuung, so geht die andere in ihrem Dasein als Super-Mutti nicht auf, sondern klammert sich an das, was sie für Gut und Richtig hält und fühlt sich doch als Verliererin. Auch wenn Klaus eventuell nicht treu ist, ein drittes Kind verschafft Judith eine neue Daseinsberechtigung. Stück für Stück lernt der Leser beide Familien kennen, schaut in ihre Wohnungen und in die Abgründe, die sich auftun. Unter Judith im Haus lebt das alte Ehepaar Luise und Wenzel Posselt. Judith mag die alte Frau nicht, die ihre Kinder, wenn sie auf sie aufpasst mit zu viel Sü�em vollstopft. Als Wenzel stirbt, bleibt die Welt für Luise stehen. In aller Ruhe widmet sie sich ihrer Trauer und den vertrauten Ritualen. Aber auch die nicht so wohl geordnete Welt findet Platz in diesem Draufblick auf's wahre Leben von heute. Ghettokids wie Marco finden Eingang in die Geschichte. Er will dem prügelnden Stiefvater entkommen und wird für die fatale Wendung und den Showdown im Roman sorgen. Fein komponiert verbindet die Autorin am Ende alle Fäden des Erzählmaterials. In einem �berfall auf den türkischen Gemüseladen, der so ganz anders ist als die üblichen Läden, konfrontiert Anna Katharina Hahn alle ihre Figuren miteinander und führt sie zusammen.

Ein au�ergewöhnliches Buch � realistisch, psychologisch genau, nie verletzend.