Das Antwerpener Testament

Evelyn Grill

Residenz Verlag 2011, 320 Seiten, �22,90

� Es gäbe noch einiges, sagte Nora stockend, interessante Details vielleicht, ich habe ja alles sozusagen, nur im Telegrammstil erzählt.�

Als Henriette Stanley nach langer Krankheit Anfang der 1980er Jahre in England stirbt, wei� ihre Tochter Ann, dass sie vieles hätte klären sollen, bevor die Stimme der egozentrischen Mutter versagte. Immer wurde den Kindern, Ann und ihrem älteren Bruder Harry, dem �armen Harry�, eingetrichtert, dass die aufopfernde Mutter trotz reicher Familie in Antwerpen, der Bruder führte eine Reederei, die Kinder mit ihrem Französischunterricht durchgebracht hätte. Beide sind der Mutter etwas schuldig und müssen es ihr, so die Forderung der Dame aus besserem Hause, wie auch immer zurückzahlen. Wie weit die Mutter mit dieser Anma�ung gehen würde, erlebt der schwache Harry. Gesundheitlich angeschlagen stellt Harry der Mutter seine gro�e Liebe vor. Die junge attraktive Frau wird von der Mutter ignoriert und Harry erleidet aus Scham oder Schwäche eine Nervenkrankheit, die ihn zeitlebens an die Mutter bindet. Der Vater von Ann und Harry existiert im Familienleben nicht. Alle Erinnerungen an ihn hat die Mutter ausgelöscht oder verfälscht. Er ist der Versager, der schuldig geworden ist am Tod des dritten Kindes und der Verprasser ihres Geldes. Nora Stanley, seine Schwester, wei� es besser. Der Glaube und das Wissen um ein Leben, das ihr angeblich versagt geblieben ist, bestimmen die krude Lebensphilosophie von Henriette Stanley, die sie ungefiltert und gnadenlos auf ihre Kinder überträgt. Als die schüchterne Ann nach dem Krieg in Deutschland ein Praktikum absolviert, verliebt sie sich in Ulrich, einen jungen Mann, der als Historiker Karriere machen will und an seiner Dissertation arbeitet. Ann wagt kaum ihrer Mutter zu sagen, wen sie heiraten möchte, denn ein Deutscher, auch wenn er Katholik ist, käme für die Mutter nie in Frage. Ann und Ulrich müssen mehr als vier Jahre ausharren bis Ann Mut fasst und gegen die Widerstände der Mutter Ulrich ehelicht.

Evelyn Grill schlägt einen weiten Bogen und beleuchtet ihre Figuren nicht nur aus verschiedenen Perspektiven und zeitlich versetzt, sie wechselt auch die Orte, mal ist es Worthing Seafront, mal New York, dann wieder der Schwarzwald oder Antwerpen. Und sie beleuchtet wie sehr die Auswirkungen des II. Weltkriegs das weitere Leben aller Beteiligten beeinflussen wird. Die erfahrene Autorin umkreist die Beziehung und das Familienleben von Ulrich und Ann, die sich in Karlsruhe niederlassen. Kaum verheiratet, Ulrich schreibt immer noch an seiner Doktorarbeit, ist Ann schwanger. Aus finanziellen aber auch praktischen Gründen geht Ann zur Entbindung nach England. Die Mutter hatte ihr auf Raten des Pfarrers gro�mütig verziehen. Ihr war klar, dass sie die Tochter endgültig verlieren würde, würde sie nicht einlenken. Doch nun hat sie ein anderes Druckmittel, um Ulrich und auch Ann zu drangsalieren. Als ihr älterer, charismatischer Bruder Frans verstirbt, ist klar, dass sie nichts erben wird, denn ihr Bruder hätte nie einen Deutschen in der Familie akzeptiert. So lautet die ewige Litanei um den Verlust der Schwiegermutter, die sich Ulrich bei jedem Englandbesuch anhören darf. Angeblich hat die Mutter das Antwerpener Testament angefochten, aber nie durfte Ulrich nur einen Blick auf die Papiere werfen. Ulrich gibt seine akademischen Pläne auf und arbeitet als Gymnasiallehrer, eine gro�e Enttäuschung nicht nur für ihn, auch für seine Familie. Sein erster Sohn kommt mit einer geistigen Behinderung auf die Welt und verändert Anns Leben, die als Lehrerin nicht mehr in ihren Beruf zurückkehrt. Alles, was Ann und Ulrich an geistigen Interessen verbunden hat, ist plötzlich verschwunden. Die Gespräche versiegen in ihrer Ehe langsam. Erst als Ann ein Jahr nach ihrer Mutter an Krebs verstirbt, kann Ulrich die Familiengeheimnisse um das Testament und den früh verschwundenen Ehemann von Henriette lüften. Doch zu diesem Zeitpunkt ist es bereits zu spät.

Viele Schicksale, mit denen der Leser konfrontiert wird, ob es Lilly, die Vertraute von Ulrich ist, ihre Familie oder auch die Familie von Henriette im unerreichbaren Antwerpen, tippt die österreichische Autorin Evelyn Grill ebenfalls nur im �Telegrammstil� an. Im Schnelldurchlauf vergehen die Jahrzehnte und im Rückblick erscheint vieles, gerade die schweren Jahre für Juden unter der Naziherrschaft in Europa, Unbedeutender als sie wirklich waren. Viele Fragen bleiben nach der Lektüre offen. Kann man sein Leben auf einer Lüge aufbauen? Wie wichtig ist der finanzielle Halt, der Status für menschliche Bindungen? Nie entstand der Eindruck, dass Anns Mutter oder die Kinder irgendetwas entbehren mussten? Lebensnah beobachtet und psychologisch überzeugend doch ab und zu in einer schwülstige Sprache (�Die Musik wühlte beide schlie�lich so sehr auf, dass ihnen Tränen eines wollüstigen Herzwehs über die Wangen liefen.�) verpackt, berührt dieser Roman jedoch länger als erwartet.

Wenn man die letzte Seite atemlos gelesen hat, fängt man wieder von vorn an, denn nun erscheint die Familiengeschichte der Stanleys in einem neuen Licht.