Auf der anderen Seite des Meeres

Siobhan Dowd

Aus dem Englischen von Salah Naoura, Carlsen Verlag, 319 Seiten, �14,90

� Und Mam schaute an mir vorbei, auf etwas, das ihr wichtiger war.�

Wenn Holly Hogan etwas unsäglich vermisst, dann ist es ihre Mutter. Früh kam das Mädchen ins englische Kinderheim nach Templeton House. Die Zeit dort wurde für sie eigentlich nur durch den unkonventionellen Betreuer Mike erträglich. Mit Grace und Trim aus der Gruppe klaut Holly, lässt sich auf den Strich schicken oder landet in der Geschlossenen Abteilung bei der Polizei, weil sie wiedermal abgehauen ist. Jetzt ist Holly 14 Jahre alt und trägt das Gefühl in sich, dass niemand sie haben will. Mike hat sich einen neuen Job im Norden gesucht und um Holly sollen sich erneut Pflegeeltern kümmern, dieses Mal das kinderlose Paar Fiona und Ray Aldridge. Fiona erscheint dem Mädchen so unecht in ihrer aufgesetzten Freundlichkeit und sie nervt sie mit ihrer ewigen Fragerei. Holly verschlie�t sich vor allem, sie ist bockig, verstockt, sie beleidigt Fiona und eckt überall an. Und in dem Mädchen tobt eine innere Wut, die sich schnell entladen kann. Dabei hat sie eine ausufernde Fantasie und kann die besten Geschichten aus dem Stehgreif erfinden. Immer wieder kehren die verklärten Erinnerungen an Irland und Hollys Mutter mit dem Glas in der Hand zurück, auch die quälenden Bilder, in denen sich die Mutter mit ihrem Freund Denny im Himmelshaus laut streitet. Ein Bernsteinring und die letzten Worte der Mutter sind Holly geblieben und der Schmerz. Das Mädchen glaubt, dass die Mutter wieder in ihrem Sehnsuchtsland Irland lebt und dort auf sie wartet, ohne Denny. Als die Probleme bei den Aldridges zunehmen, beschlie�t Holly sich von London aus auf den Weg nach Irland zu begeben. In Fionas Schrank findet sie eine blonde Perücke und verwandelt sich in die ältere Solace, die fast wie 17 aussieht. In dieser Tarnung und mit einem geklauten Kleid schafft es Holly über Oxford bis nach Wales und sogar bis zur Fähre nach Irland. Auf ihrer Reise lernt sie die unterschiedlichsten Männer und Frauen kennen und täuscht jeden mit ihren dramatischen, wie glaubhaften Lügengeschichten und ihrem trickreichen Rollenspiel. Je näher Holly jedoch in ihren Rückblenden zur letzten Begegnung mit der Mutter und Denny gelangt, um so näher kommt das Mädchen der Wahrheit, und die ist schwer zu ertragen.

� Auf der anderen Seite des Meeres� ist das letzte Jugendbuch von Siobhan Dowd, die bereits mit 47 Jahren an Krebs verstorben ist.

Aus der kompromisslosen Perspektive Hollys beschreibt die Autorin sprachlich schön und wirklichkeitsnah die komplizierte Innenwelt eines zutiefst verletzten Menschen, dem jegliche Wärme und Sicherheit fehlt und der Mauern um sich errichtet. Holly ist eine durchaus echte Figur, denn jedes Gefühl, jede Verhaltensweise kann ein sensibler Leser, der sich auf das Mädchen einlässt, nachvollziehen. Holly verärgert, sie provoziert, aber sie hat auch etwas freundliches, liebenswertes, mitfühlendes, denn ihr Blick auf dieser Reise ist offen für Landschaften und für Menschen. Aber die schwierige Fahrt nach Irland wird für Holly zur Suche und zur bitteren wie klärenden Reise zu sich selbst, ein befreiender Durchbruch, der den Verlauf ihres weiteren Lebens bestimmen wird. Sie wird nicht wie Trim ins Kriminelle abrutschen und sie wird nicht wie Grace einfach abtauchen.