Delphine de Vigan: Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin

Aus dem Französischen von Doris Heinemann, Droemer Verlag, München 2010, 252 Seiten, �18,00

�Jetzt ist sie vierzig, und ein Idiot in Schlips und Kragen ist dabei, sie ganz langsam zu zerstören.�

Es ist der 20. Mai 2009, ein entscheidender Tag, hofft, ersehnt Mathilde Debord, denn sie ist am Ende ihrer Kräfte. Eine Wahrsagerin hat ihr prophezeit, dass etwas Entscheidendes an diesem Frühlingstag geschehen wird. Seit acht Jahren arbeitet die verwitwete Mutter mit drei Söhnen in einer angesehenen Position als Stellvertreterin in einer gro�en Marketingfirma in Paris. Seit sie vor neun Monaten ihrem Chef Jacques Pelletier auf einer wichtigen Sitzung öffentlich widersprochen hat, mobbt er sie systematisch. Er entzieht ihr Projekte, sorgt dafür, dass sie keine wichtigen Informationen mehr erhält und schiebt sie, immer mit besorgter Miene um ihr Wohlergehen, langsam aufs Abstellgleis. Mathilde hat jeden Lebensmut verloren, denn sie schämt sich. Tapferkeit und Durchhaltevermögen, all ihre Kraft sind ihr verlorengegangen. Sie spricht zwar über die Probleme im Büro, spürt aber wie seltsam distanziert ihre Freunde darauf reagieren. Die Jungen bemerken die Veränderung und versuchen der Mutter durch Selbständigkeit und Fürsorge entgegenzukommen.

In einer Parallelhandlung erzählt die französische Autorin von dem 43-jährigen Arzt Thibault, der seit zehn Jahren durch Paris fährt, um Patienten aufzusuchen. Er hat sich in Lila verliebt, eine anziehende, emotionslose Frau, die sich ihm hingibt, ohne je bei ihm zu sein. Immer wieder hat er den Versuch unternommen, sich von ihr zu lösen. An diesem Morgen des 20. Mai schafft er es endlich und ist zutiefst unglücklich. Auch Thibault ist wie Mathilde müde, erschöpft von der täglichen Routine, dem Anlaufen gegen Widerstände und der Sehnsucht nach einem liebenden Menschen.

Genau beobachtet Delphine DeVigan ihre beiden Protagonisten und deren Umgebung. Atmosphärisch dicht und präzise beschreibt sie ihr Innenleben, ihre zunehmende nicht ausgelebte Aggressivität und greift immer wieder auf Rückblenden zurück, um Mathildes und Thibaults Handeln dem Leser plausibel zu machen. Die Autorin entlarvt den zu klein geratenen, schwachen Vorgesetzten, der keine Kritik vertragen kann. Mathilde hat einmal eigenständig gedacht und nun den Hass ihres Vorgesetzten provoziert. Doch er sitzt am längeren Hebel und die Kollegen, die Mathilde etwas zu verdanken haben, ducken sich jetzt allesamt weg. Kein Einzelfall, wie die hilflose Personalchefin bestätigt.

Es fällt beim Lesen schwer, die selbstgewählte Ausgrenzung der beiden Hauptfiguren zu ertragen, das Gefühl, dass sich beide an ihr Dasein gewöhnt haben und sich selbst aufgeben.

Eine lohnende Lektüre über den hektischen Arbeitsalltag, nicht vorhandene Kollegialität und die Vereinsamung inmitten einer pulsierenden Stadt.