WINTERMÄDCHEN

Laurie Halse Anderson: Wintermädchen, Aus dem Amerikanischen von Salah Naoura, Ravensburger Buchverlag, 2010, 313 Seiten, €16,95

„Ich bin das Mädchen, das über die Tanzfläche stolpert und nicht zum Ausgang findet.“

Lia Marrigan Overbrock wandelt zwischen Schuldgefühlen, Minderwertigkeitskomplexen und einer komplizierten Mutter – Tochter – Beziehung durch den Alltag und findet keinen Halt. Sie belügt und betrügt ihre Umwelt, um nur ja nicht zu viele Kalorien am Tag zu sich zu nehmen. Sie trickst alle aus und magert immer mehr ab. Nah fühlt sie sich nur ihrer Stiefschwester Emma, die mit ihren neun Jahren gern isst und vieles tut, was ihre Mutter Jennifer, die neue Frau von Lias Vater, möchte. Mit ihren 18 Jahren schaut Lia auf eine Vergangenheit zurück, in der ihre Mutter immer Erwartungen an sie stellte, die sie nicht erfüllen konnte. Lia soll Ärztin werden, so wie sie. Aber Lia hat gar keine Ahnung, wer sie eigentlich ist. Wie ein Befreiungsschlag aus den Fängen der Mutter erschien Lia der Umzug in die neue Familie ihres Vaters, der als bekannter Geschichtsprofessor und Buchautor wenig Zeit für die Töchter aufbringt. Immer wieder glaubt sie seinen Versprechungen und wird enttäuscht. Lias Mutter bemüht sich um den Kontakt zur Tochter, erreicht sie aber nicht mehr. „Sie hat nur sieben Sätze gebraucht, um mir auf die Nerven zu gehen.“ Lia blockt alles ab und hungert auch nach Krankenhausaufenthalten und Besuchen einer Psychologin konsequent weiter. Als ihre beste Freundin Cassie in einem Motel tot aufgefunden wird, stürzt Lia in eine tiefe Krise. In Rückblenden erinnert sich Lia an ihre innige Freundschaft zu Cassie. Durch dick und dünn während der schweren Zeit der Pupertät gehen die beiden und treiben miteinander immer mehr in die Hunger-Spirale. Die Mädchen denken, wenn sie noch mehr abnehmen, wird alles perfekt und sie werden geliebt. Als Cassie jedoch klar wird, wie schwer sie bereits vom Hungern abhängig ist, bestärkt Lia sie noch in ihrem Verhalten. „Wir verwandelten uns in Wintermädchen, und als Cassie sich davonmachen wollte, zog ich sie in den Schnee zurück, wiel ich Angst davor hatte, allein zu sein.“ „Als ich noch ein richtiges Mädchen war...“ bezeichnet Lia ihre Zeit vor all den Fress- und Kotz- Attacken. Lia sieht Cassies Geist und beginnt mit ihr zu reden. Realität und Fantasie verschwimmen in Tagträumen und wilden Halluzinationen.

Lia schirmt sich immer mehr von allen Menschen ab. Nur Schwester Emma liegt ihr am Herzen. In ihrer Verzweiflung beginnt Lia sich selbst zu schneiden, um sich zu spüren. Lias Mutter berichtet dann von Cassies qualvollem Tod, bedingt durch den Essensentzug, Abführmittel und Alkohol. Immer wieder hat Cassie versucht, Lia zu erreichen, aber die Freundin ist nicht ans Telefon gegangen. Längst hatten die zwei den Kontakt zueinander verloren. Im Motel findet Elijah das tote Mädchen und hat eine letzte Nachricht von Cassie an ihre Freundin Lia.

Die amerikanische Autorin Laurie Halse Anderson beschreibt aus Lias Perspektive psychologisch überzeugend in starken Bildern und vor allem verständlich, wie junge Mädchen über einen langen Zeitraum hinweg in die Hunger-Falle tappen und mit ihrem starken Willen und trotzdem hilflos auf die Katastrophe zusteuern. Ohne zu beschönigen zeigt sie die Fehler der Erwachsenen auf, die ihre Kinder auch im Alter von 18 Jahren noch wie ahnungslose Unschuldsengel behandeln. Fesselnd bis zur letzten Seite!